Tokyo, 7.10.2009

Eigentlich könnte ich die ersten Sätze der letzten beiden Tage kopieren, außer sie bezögen sich auf das Wetter, das ist heute noch schlechter. Mit höchstens 17°C ist es unangenehm kühl und es gießt wie aus Eimern. Gut, dass das Programm heute aus vielen Fußmärschen besteht. Ansonsten beginnt alles wie gehabt, Pick-up-Service in verschiedenen Hotels, Fahrt zum Busterminal, am Schalter Gutschein gegen Ticket tauschen. Ab dann läuft es aber anders. Als sich die zusammengewürfelte Gruppe eingefunden hat und unser (heute männlicher) Reiseleiter mit dem schönen Namen "Kake" (es wird genauso wie das ähnliche deutsche Wort ausgesprochen) dazugestoßen ist, werden Zugtickets verteilt. Unter Kakes Führung stürzen wir uns ins Getümmel der Pendlerzüge. Das Entwerten der Tickets erfolgt genauso wie in der U-Bahn: Man steckt es am Beginn eines schmalen Durchgangs in einen Schlitz und entnimmt es am Ende des Durchgangs aus einem anderen Schlitz. Drehkreuze gibt es nicht. Man muss am Ende der Fahrt die Prozedur wiederholen (das Ticket wird dabei einbehalten) und es klappt eine Sperre in dem Durchgang auf, wenn mit dem Ticket etwas nicht stimmt, oder man schwarz gefahren ist.

Wir befinden uns an der Station Hamamatsucho und fahren zunächst in einem ziemlich vollen Zug nach Shinagawa. Dort sollen wir eigentlich in einen Zug nach Kamakura steigen, dessen Fahrplan ist allerdings wegen eines "Unfalls mit Personenbeteiligung" durcheinandergeraten. Wir bekommen heraus, dass dies wohl eine Umschreibung dafür ist, dass sich jemand vor den Zug geworfen hat. Die Selbstmordrate in Japan ist ziemlich hoch. Insbesondere Angestellte im mittleren Management halten dem enormen Druck oft nicht stand. Wegen der Verspätung lotst uns Kake in einen anderen Zug, der nach Ofuna fährt. Der Zug ist relativ leer, dafür ist das Publikum handverlesen. Viele Klischees versammeln sich da. Schräg links mir gegenüber sitzt ein Junge, etwa im Abituralter, mit langer, rotbraun gefärbter Emo-Frisur und drückt auf einem PDA und einem Mobiltelefon gleichzeitig herum. Schräg rechts gegenüber sitzt ein junger Angestellter mit schwarzem Anzug und Krawatte, dessen letzte geschäftliche Tätigkeit wohl extrem spät und extrem feucht geendet hat, denn er gähnt, während er ebenfalls auf seinem Mobiltelefon ein Spiel bedient, alle paar Sekunden, reibt sich die Augen oder fährt sich durch das schon völlig verwuschelte Haar, bis er an einer Station hastig einpackt und schon beim Aussteigen versucht, fit auszusehen. Ein Mädchen im Gothic-Look mit Netzstrümpfen steigt ein und neben mich setzt sich ein junger Mann mit einem Manga. Nachdem er sich ausführlich der Werbung für knappe Bikinis im Vorderteil des Heftes gewidmet hat, beginnt er in hastigem Tempo die extrem blutrünstige Bildergeschichte zu lesen. Dabei wird von rechts nach links geblättert.

Nach all diesen Eindrücken erreichen wir Ofuna, wo wir in einen Zug nach Kamakura umsteigen. In Kamakura bekommen wir ein weiteres Mal Tickets, denn wir steigen in einen kleinen Regionalzug um, der nicht von Japan Railways, sondern von einer privaten Gesellschaft betrieben wird. Mit dem kleinen Zug fahren wir zu unserem ersten Ziel, nach Hase. Dort steigen wir aus und trotten durch den strömenden Regen zu einem sehr schönen buddhistischen Tempel, dem Hasedera. In der Haupthalle ist ein vergoldeter, elfgesichtiger Buddha zu sehen. Aber auch sonst gibt es hier interessante Dinge: Ein Meditationshaus für Besucher, eine Höhle mit Buddhastatuen, von denen man sich gegen eine kleine Spende etwas wünschen kann, eine kleine Sutrenbibliothek mit einem drehbaren großen Bücherschrein (eine Drehung desselben soll genauso viel Wissen verleihen, wie die Lektüre aller in ihm enthaltenen Schriften), der zum 18. jedes Monats zum Drehen freigegeben wird, und ein Garten. Die schlichte Schönheit der Tempelanlage tröstet über das schlechte Wetter hinweg.

Der Hasedera-Tempel Der Hasedera-Tempel Der Hasedera-Tempel
Der Hasedera-Tempel Der Hasedera-Tempel Der Hasedera-Tempel

Der Hasedera-Tempel. Unten mitte: An solch einem unangenehmen Herbsttag muss der Räucherstäbchenanzünder schon mal zum Händewärmen herhalten.

Unsere nächste Station ist der große Buddha (Daibutsu), eine 13,5 Meter hohe Bronzestatue des Amitabha-Buddha, neben dem Fujisan und dem Torii im Meer bei Miyajima vermutlich die am häufigsten verwendete Abbildung in Japan-Prospekten. Die Statue weckt, trotz der asiatischen Gesichtszüge, gewisse Assoziationen an Griechenland, was hauptsächlich an der Lockenfrisur und an einem Spiel mit der Betrachtungsperspektive liegt: Die Figur hat nur von vorne betrachtet ausgeglichene Proportionen, von der Seite betrachtet wirkt sie etwas unförmig.

Die Daibutsu-Statue

Die Daibutsu-Statue.

Der Regen wird immer heftiger. Wie gut, dass wir von der Daibutsu-Statue aus nur einen kurzen Weg in das Restaurant zurücklegen müssen, in dem unser Mittagessen serviert wird. Es gibt gebratenen Reis, eine Buchweizennudelsuppe mit Gemüse, Kräutern und Tofu, ein Gericht mit mariniertem Tofu, ein wenig Rindfleisch, eingelegten Ingwer und Rettich. Dazu wird grüner Tee getrunken.

Derartig gestärkt begeben wir uns durch den strömenden Regen zum kleinen Bahnhof von Hase, um mit der kleinen Regionalbahn nach Kamakura zu fahren. Vom dortigen Bahnhof aus platschen wir etwa einen Kilometer durch die Pfützen und an zwei roten Toriis vorbei zum shintoistischen Hachiman-gu-Schrein, einer schönen Anlage aus dem 19. Jahrhundert mit schlichten, roten Holzgebäuden. Wie an shintoistischen Schreinen üblich, gibt es hier einen überdachten Brunnen, an dem man sich Hände und Mund reinigen kann. Nach dem Schreinbesuch wird eine Stunde Shopping in der nahe gelegenen Straße mit Souvenirgeschäften verordnet, dann geht es wieder zum Bahnhof.

Der Hachiman-gu-Schrein Der Hachiman-gu-Schrein Der Hachiman-gu-Schrein

Der Hachiman-gu-Schrein.

Im Zug fragt Kake jeden nach der endgültigen Destination. Es stellt sich heraus, dass der Zug, in dem wir uns befinden, über Shinjuku Station fährt. Ich steige also nicht mit der Gruppe in Osaki aus, sondern bleibe im Zug, nachdem mir Kake dreimal eingeschärft hat, dass ich nach drei weiteren Stationen aussteigen muss. An der mir schon wohlbekannten Shinjuku Station (sofern es nicht vermessen ist, einen Bahnhof, der eher einer Kleinstadt gleicht, "wohlbekannt" zu nennen) steige ich aus, schlage mich zum westlichen Ausgang durch und gehe zu meinem Hotel. Inzwischen ist der Regen schwächer geworden.

Nach einer kurzen Pause gehe ich in ein kleines Tempura-Restaurant in der Nähe meines Hotels und esse dort ein Menü, das aus drei Tempura (grüne Bohnen, eine Garnele, ein mir unbekannter Fisch), einer Buchweizennudelsuppe, Frühlingszwiebeln und eingelegtem Ingwer besteht. Es ist mit 680 Yen sehr preisgünstig und schmeckt sehr gut, nach den langen Fußwegen heute bin ich aber noch hungrig. Ich möchte in einem Ramen-Restaurant ein paar Nudeln essen, finde aber keines. In einem der vielen Seitenbereiche der Shinjuku Station stehe ich schließlich vor einem großen Sushi-Restaurant. Ich gehe hinein und muss ein paar Minuten warten, bis ich einen Platz an der riesigen Bar bekomme. Hier ist das Essen sehr gut, ich finde aber, dass das Preis-Leistungsverhältnis schlechter ist, als in der kleinen Sushi-Bar, in der ich vorgestern war. Ich nehme mir sieben Teller vom Band und zahle am Ende 1410 Yen. Ich muss zugeben, dass ich kein Kenner bin, aber ich empfand die Qualität im Vergleich mit dem anderen Restaurant nicht als höher. Vielleicht werde ich morgen Abend noch einmal dorthin gehen, sofern der Taifun bis dahin schon durchgezogen ist.